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Hauptbahnhof > Presse-Tor > Nur ein einziges Mal was richtig Großes machen! (Darmstädter Echo 8.11.2003)
Nur ein einziges Mal im Leben was richtig Großes machen!
Laienmusical zur 700-Jahrfeier in Heubach

„Entweder wir machen jetzt mal was Richtiges – oder ich höre auf mit diesem Chor“

Heubach bei Groß-Umstadt, Frühjahr 2002: zur wöchentlichen Chorprobe des Jugendchores des Arbeitergesangvereins (AGV) Liederzweig sind gerade mal zehn Mädchen und zwei Jungs erschienen. Für Chorleiterin Inge Geißler (46) steht eine Entscheidung an: „Entweder wir machen jetzt mal was Richtiges – oder ich höre auf mit diesem Chor.“

Dabei laufen in Heubach die Planungen für die 700-Jahrfeier der Gemeinde an, auf dem Marktplatz soll eine große Bühne aufgebaut werden. Da wird Inge Geißler klar: „Jetzt oder nie! Da waren all die Möglichkeiten, die ich brauchte für ein Projekt: Eine Bühne mit Anlage, die wir kostenlos nutzen konnten!“

Erfahrung mit solchen Projekten hat die studierte Musiktherapeutin, aber wird sie Mitstreiter finden? „Linie 1“, das Rock-Musical, das Inge Geißler im Auge hat, ist ein großes Projekt. Man braucht jede Menge Darsteller, man braucht eine Band, Kulissen, Beleuchtung, Bühnen- und Kopfmikrofone...

„Mach was Du willst, aber ich will nichts damit zu tun haben!“ Ehemann Christian Geißler hat zu diesem Zeitpunkt seinen Traum vom Musikerfolg zur Seite gelegt. Auch er hat Musik studiert und in Berlin-Kreuzberg als Musiklehrer gearbeitet, doch das ist Vergangenheit. Nach einer Umschulung arbeitet er als Datenbank-Spezialist für IBM-Großrechner bei der Commerzbank Frankfurt. „Das kriegt ihr nie auf die Reihe!“ ist seine Einschätzung. „Deine Jungs und Mädels kriegen doch den Mund nicht auf, die können doch nicht auch noch schauspielern auf der Bühne. Lass die Finger davon, das gibt nur Frust!“

Doch Inge Geißler hat andere Verbündete: Ulrike Laux, die Jugendbetreuerin des Chores und deren Mann Christian Flöter, den Vorsitzenden des Gesangvereins. Vor allem auf Ulrike Laux kann sich Inge Geißler verlassen. Sie führt mit ihr zusammen den Chor und ist immer da, wenn sie gebraucht wird. „Ich wusste, die ziehen mit, egal wie’s wird,“ erinnert sich Inge Geißler, „und so haben wir’s angepackt.“

Zu der Zeit weiß sie noch nicht, dass man ihr mitten in der Vorbereitungszeit eine Vertretungsstelle an der kinderpsychologischen Tagesklinik in Höchst anbieten wird, auf die sie schon lange gehofft hat. Und sie weiß nicht, dass sie während dieser Zeit ihren Vater verlieren wird. „Ich wollte das einfach machen.“ Und so zeigt sie dem Jugendchor zuerst einmal den Spielfilm des Rock-Musicals „Linie 1“. Sie kennt das Stück schon von ihrer Ausbildung in Aachen – und sie hat es sehr lieb gewonnen.

Die Story: Berlin in den achtziger Jahren. Das Mädchen Sunnie aus der Provinz hat sich in einen jungen Rock-Musiker aus Berlin verliebt. Sie flieht aus ihrem engen Zuhause nach Berlin. In der U-Bahn lernt sie die Menschen, das Leben und Überleben in der Großstadt kennen. Sie erlebt Isolation und mitleidloses Verhalten, aber auch menschliche Wärme und Zuversicht.

Das Stück spielt auf den Bahnhöfen und in den Zügen der U-Bahn-Linie 1 im geteilten Berlin. Menschen steigen ein und aus, das Stück bietet eine Unzahl von verschiedenen Rollen, die alle mitten aus dem Leben gegriffen sind. Für jeden ist etwas dabei.

Die Jugendlichen sind sofort begeistert. Sie machen sich auf die Suche nach weiteren Darstellern. Nachdem ein Mitmach-Aufruf an alle Heubacher Haushalte verteilt worden ist, kommen zum ersten Treffen am 28. August 2002 mehr als 40 Interessierte ins evangelische Gemeindehaus. Darunter sind zwar nur wenige Jungs und Männer, dafür aber beschließt Ehemann Christian Geißler nun doch, mit einzusteigen. Er will die Band organisieren.

Im Herbst 2002 beginnen die Proben. Während Inge Geißler und Uli Laux Terminpläne erstellen, den Kulissenbau organisieren, fehlende Rollen besetzen und dann mit den Gesangs- und Tanzproben beginnen, sucht Christian Geißler sich seine Band zusammen. E-Gitarre, E-Bass, Keybord und Schlagzeuger werden gebraucht, Saxophon, Geige und Gitarre spielt er selbst.

Christian Geißler sorgt für zwölf Kopf-Mikrofone, eine Verstärkeranlage, farbige Bühnen- und Verfolgungsscheinwerfer und ein Mischpult mit 24 Kanälen.

Das Ehepaar merkt bald, dass jeder von ihnen andere Ansprüche an die Arbeit hat. „Mir ging es vor allem darum, mit den Jungs und Mädchen auf ein neues Ziel zu marschieren,“ ist Inges Einstellung. „Sie sollten was Neues ausprobieren können und dabei Spaß haben. Christian dagegen hatte völlig perfektionistische Ansprüche und damit hat er mich auch unter Druck gesetzt.“ So hat das Ehepaar neben Beruf und Familie nicht nur einen Vollzeit-Organisationsjob am Hals, sondern muss auch untereinander erhebliche Spannungen aushalten.

Bald ist jede freie Minute mit Vorbereitungen für das Musical gefüllt. Christian Geißler kümmert sich mit Unterstützung von Christian Flöter um die Aufführungsrechte und die Versicherungen. 225 Euro sind für fünf Aufführungen fällig plus 75 Euro

Leihgebühr für die Noten. 12,5 Prozent der Einnahmen müssen ebenfalls abgeführt werden.

Der Versicherungswert der Instrumente und der Technik beläuft sich bald auf 40.000 Euro. Eine Versicherung dafür zu finden erweist sich als schwierig und zeitraubend. Doch mit der Aufgabe wächst auch die Unterstützung. „Ohne die unglaublich vielen Menschen, die uns bei allen möglichen Sachen so zuverlässig unterstützt haben, wäre all das nicht zu machen gewesen,“ sagt Inge Geißler.

So steuert die Alfred-Delp Schule einen Teil des Bühnenbilds und der Kostüme bei, die Stadt Groß-Umstadt, der Odenwald-Club und verschiedene Musikfachhandlungen stellen technische Ausrüstung zu Sonderkonditionen zur Verfügung.

Sohn Lukas (20), der kurz vor dem Abschluss einer Lehre als Print-Mediengestalter steht, kümmert sich um die Veranstaltungswerbung und die Web-Seite, sein Chef räumt Sonderkonditionen beim Druck ein. Auch die beiden jüngeren Söhne Janko (16) und Florian (14) und zahllose Freunde und Bekannte des Ehepaares lassen sich bereitwillig einspannen. Ihre sozialen Kontakte verlieren Geißlers jedenfalls nicht über diesem Projekt.

Die Chorarbeit allerdings gerät nach neun Monaten Einzelproben in eine Krise: Viele der später dazu gestoßenen Akteure kennen das gesamte Stück gar nicht. Manche lernen fleißig ihre Rollen auswendig, andere überhaupt nicht, niemand sieht so recht, wo die Reise hingeht.

Das ändert sich erst nach einem viertägigen Probenwochenende Mitte Juni. Jetzt sind es noch drei Wochen bis zur Premiere am 11. Juli. „Da haben dann alle das erste Mal das Stück im Zusammenhang gesehen.“ erinnert sich Inge Geißler. „Da ist der Funke übergesprungen. Sie haben sich gegenseitig applaudiert und begriffen, worauf alles hinausläuft.“

Gleichzeitig wird klar, dass vieles noch überhaupt nicht klappt. Christian Geißler wischt sich noch nachträglich den Schweiß von der Stirn. „Wir dachten damals: Das schaffen wir nie.“ Besonders die aufwendige Tontechnik mit den Kopf-Mikrofonen und Verstärkern machte ernsthafte Probleme. Jetzt ist Christian Geißlers Perfektionismus gefragt. Doch auch alle anderen sind jetzt mit einer neuen Einstellung dabei: Aus mehr als 50 Einzelpersonen ist bei diesem Probenwochenende die Musical-Truppe „Linie1“ geworden. Fieberhaft werden die Schwierigkeiten beseitigt.

Dann kommt der große Tag. „Linie 1“ wird bei der 700-Jahr-Feier auf dem Heubacher Marktplatz zum ersten Mal aufgeführt. Die 200 Sitzplätze sind voll belegt, weitere 200 Menschen harren stehend drei Stunden aus und verfolgen gebannt die Handlung. Der Applaus ist überwältigend. „Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen.“ sagt Christian Geißler und seine dunklen Augen leuchten bei der Erinnerung an diesen Tag. „Einmal so ein Projekt anfangen und zum Erfolg führen, das habe ich mir immer gewünscht.“

Auch Inge Geißler ist glücklich: „Wenn ich sehe, wie sich die Jugendlichen durch diese Arbeit entwickelt haben – einfach unglaublich! Ich hatte da zum Beispiel ein Mädchen im Chor, das war immer so schüchtern und hat nie den Mund aufgemacht. Als sie dann auf der Bühne stand, ohne Scheu und dieses wunderschöne Solo gesungen hat – da kriege ich noch jetzt beim Erzählen eine Gänsehaut!“ Und zum Beweis zieht sie ihr graues Sweat-Shirt nach oben und zeigt ihre Gänsehaut. „Zu sehen, wie die Jugendlichen, wie wir alle uns durch die Arbeit an diesem Projekt entwickelt haben, das ist mein schönster Lohn.“

Auch ihre Beziehung zu Christian hat sich verändert. „Wir mussten lernen, unsere Aufgabenbereiche zu trennen und jeder den anderen mit seiner Arbeitsweise stehen zu lassen,“ sagt sie. In ihrem Gesicht hat die Anstrengung der vergangenen Monate Spuren hinterlassen. Das Projekt, die ungeplante halbe Stelle, der Tod des Vaters – Inge Geißler sieht müde aus, unter ihren Augen liegen dunkle Schatten, aber sie lächelt. „Ich habe gelernt, mich abzugrenzen, auch gegenüber Christian, und die Dinge auf meine Art zu tun. Ich bin froh, dass wir gemeinsam durchgehalten haben.“

Drei Aufführungen hat „Linie 1“ bisher erlebt, zwei weitere stehen noch bevor. Am 29. November wird das Projekt beendet sein. Dann beginnt in Heubach die Zeitrechnung „nach Linie 1“.


Aufführungen: 15. November, 20 Uhr im Sport- und Kulturzentrum Beerfelden
29. November, 20 Uhr im Bürgerhaus Saulheim bei Mainz.
Kartenvorverkauf für die Beerfelder Aufführung:
Buchhandlung Göbl, Gammelsbacher Str. 4, Beerfelden
Rathausbuchhandlung, Neutorstr.1, Michelstadt
Buchhandlung Paperback, Bahnhofstr. 43, Bad-König
Linie1-Team, Heubach, Tel.: 0 60 78 / 91 17 71 / 93 59 21

Internet: www.linie1-heubach.de

Sabine Allmenröder
7.11.2003


  • Original-Artikel im Magazin des Darmstädter Echo am Samstag den 8.11.2003